Flurkarte Unterleuten Gerhard Fließ Jule Fließ-Weiland Bodo Schaller Hilde Kessler Gombrowski Silke und Sabine Märkischer Landmann Karl, der Indianer Objekt 108 Linda Franzen Arne Seidel Kathrin Kron-Hübschke Wolfi Hübschke Krönchen Kron-Hübschke Schiefe Kappe Oma Rüdiger und Opa Margot Ökologica GmbH Wald

Das Dorf

Name: Unterleuten
geboren: ca. 1313
Beruf: Ortsteil der Gemeinde Seelenheil
Beziehungen: Teilt sich den Gemeindehaushalt mit den Dörfern Beutel, Groß Väter, Seelenheil. Ansonsten keine Beziehungen nach außen.
Besondere Merkmale: 250 Einwohner
Hervorstechende Eigenschaften: freiheitsliebend.

Die Welt wurde in Städten erfunden, verwaltet, regiert und dekoriert. Also sollten die Irren mit ihrem Irrsinn auch in den Städten bleiben. Kein Schwein interessierte sich für Unterleuten, wenn es darum ging, Breitbandkabel zu verlegen, verarmte Rentner zu unterstützen oder eine Arztpraxis zu eröffnen. Dann sollten sie gefälligst auch ihre Windräder im Berliner Tiergarten errichten. Unterleuten bedeutete Freiheit, Symbol der Freiheit war ein unverstellter Horizont.

Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte.

Unterleuten ist unter anderem bekannt für die Küche des Märkischen Landmanns (www.maerkischer-landmann-unterleuten.de) und die engagierte Arbeit des Vogelschutzbunds Unterleuten (www.vogelschutzbund-unterleuten.de).

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Berlin

Name: Berlin
geboren: ca. 1230
Beruf: Bundeshauptstadt
Beziehungen: Verheiratet mit vielen Zugezogenen. Wer weggeht, wird vergessen.
Besondere Merkmale: Zeitgeist
Hervorstechende Eigenschaften: nervt.

Größenwahnsinnige Arbeitgeber, unfreundliche Verkäuferinnen, Dauerbaustellen auf Hauptverkehrsstraßen, stundenlange Parkplatzsuche, Kinderwagen in überfüllten U-Bahnen. Überall Werbung, die den Verstand beleidigte. Nachbarn, die am Samstagmorgen Regale an die Wände schraubten. Kinder, die in der Wohnung oben Fangen spielten. Leute, die nicht wussten, dass es zum Musikhören auch Kopfhörer gab. Zehn verschiedene Paketdienste, die alle zwanzig Minuten klingelten, um eine Sendung für die Nachbarn abzugeben. Zugeschissene Bürgersteige. Überwachungskameras und flimmernde Monitore an jeder Ecke. Unternehmensberater am Arbeitsplatz. Berufsverkehr, Rollschuh-Demos, neurotische Hunde, überquellende Mülltonnen und Menschen, die den lieben langen Tag auf ihre Smartphones starrten, um jene ungesunde Mischung aus Panik und Langeweile nicht zu spüren, die für den aktuellen Zeitgeist typisch war.

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Gerhard Fließ

Name: Gerhard Fließ
geboren: 1960 in Münster
Beruf: ehemaliger Professor der Soziologie, heute Angestellter des Vogelschutzbunds Unterleuten (www.vogelschutzbund-unterleuten.de) in Seelenheil Beziehungen: verheiratet mit Jule Fließ-Weiland, eine ehemalige Studentin, Tochter Sophie (6 Monate). Verbietet anderen Dorfbewohnern ihre Bauprojekte, wenn er kann.
Besondere Merkmale: immer politisch aktiv.
Hervorstechende Eigenschaften: doziert gern.

Für Gerhard hatte der Umzug aufs Land eine Kündigungserklärung dargestellt. Er kündigte einer Gesellschaft, in der es nur noch darum ging, beim großen Ausverkauf der Werte die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Als früher Anhänger der Umweltbewegung hatte er politisches Engagement immer als natürlichen Zustand empfunden. An seinem 45. Geburtstag schien es Gerhard, als stünde er allein auf einem Schlachtfeld, das alle anderen verlassen hatten, um für den nächsten Stadtmarathon zu trainieren. Mit zunehmender Fassungslosigkeit blickte Gerhard in die Gesichter seiner Studenten, in denen sich Angst und Erwartung zu seltsamer Leere paarten. Der Bologna-Prozess hatte aus der Universität ein Trainingscamp für Menschen gemacht, die sich bereits seit dem Kindergarten um das Design ihrer Lebensläufe sorgten. Gerhards Kollegen waren freundlich, sportlich und stets mit allem einverstanden. Sie hatten Familien, aßen mittags Salat und tranken auf Abendveranstaltungen höchstens ein Glas Bier, bevor sie um halb elf nach Hause gingen.

Jule und er hatten sich nie als »Professor und Studentin« gefühlt, obwohl sie natürlich genau das waren. Innerhalb des kleinen Universums der Universität bildeten sie einen wandelnden Skandal – der scharfzüngige, etwas kantige, aber immer noch gutaussehende Dozent und die junge, weiche, rothaarige Schöne. Aber darum ging es nicht. Sie hatten im wörtlichen Sinn etwas füreinander übrig. Für Jule war Gerhards Furor ein Mittel gegen die drohende Informationsnarkose des frühen 21. Jahrhunderts. Für Gerhard war Jule der lebende Beweis, dass Begreifen keine Voraussetzung für Lieben darstellte. Gemeinsam konnten sie tun, wovon andere nur träumten: die Dinge hinter sich lassen, statt an ihnen zu verzweifeln. Und eine große Summe von Dingen – das war die Stadt.

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Jule Fließ-Weiland

Name: Jule Fließ-Weiland
geboren: 1982 in Berlin
Beruf: arbeitslose Soziologin, momentan in Elternzeit
Beziehungen: verheiratet mit Gerhard Fließ, Tochter Sophie (6 Monate). Bislang wenig Kontakt zu anderen Dorfbewohnern. Hasst ihren neuen Nachbarn Schaller.
Besondere Merkmale: lange rote Haare, sieht aus wie von Klimt gemalt.
Hervorstechende Eigenschaften: ist überzeugt, ständig eine Rolle zu spielen.

Jule wusste nicht, wer sie war. In ihr gab es keinen festen Kern, nichts, was den Namen »Jule« wirklich verdiente. Immer wieder probierte sie verschiedene Rollen, die angepasste Studentin oder die aufmüpfige Rebellin, Party-Girl oder Spießerin, zynische Feministin oder feminine Verführerin. Die Rollen funktionierten ein paar Tage, manchmal Wochen oder sogar Monate, dann fielen sie von ihr ab wie zerschlissene Kleider. Übrig blieb eine Frau, die keine Überzeugungen besaß, keinen Glauben und keine Idee von einer besseren Welt.

Aber Jule wollte sich nicht im Ungefähren verlieren. Das Facebook-und-Spiegel-Online-Geschwafel ihrer Freunde ging ihr auf die Nerven. Sie wollte jemand sein. Sie war gefangen in einer Betäubung, die sich nicht abschütteln ließ – bis sie Gerhard traf. Während er sprach, verwandelte sich Jule in eine Person und die Welt in einen begehbaren Ort. Zum ersten Mal spürte sie festen Boden unter den Füßen.

Inzwischen lebt Jule Fließ in Berlin und vermisst manchmal die Unterleutner Natur. Mehr auf ihrem Facebook-Account

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Sophie Fließ

Name: Sophie Fließ
geboren: 2010 in Unterleuten
Beruf: noch keinen
Beziehungen: Tochter von Gerhard und Jule.
Besondere Merkmale: sehr klein.
Hervorstechende Eigenschaften: raubt ihrer Mutter den Schlaf.

Unter dem Goldregen vor dem Haus, direkt neben der Bank, auf der sie und Gerhard früher ganze Abende verbracht hatten, saß Sophie auf ihrer sauber ausgebreiteten bunten Decke und schlug mit beiden Händchen lachend auf eine unsichtbare Trommel. Sie hatte sich zum ersten Mal aus eigener Kraft aufgesetzt. Vor Freude über diesen Erfolg strahlte sie wie eine kleine Sonne.

Inzwischen malt und bastelt sie eifrig in einem Berliner Kindergarten und unternimmt mit ihrer Mutter nur noch sporadische Ausflüge in die Natur. Sophies Mal- und Bastelarbeiten werden in unregelmäßigen Abständen auf dem Facebook-Account ihrer Mutter Jule Fließ präsentiert.

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Rudolf Gombrowski

Name: Rudolf Gombrowski
geboren: 1954 in Unterleuten
Beruf: Landwirt, Geschäftsführer der Ökologica GmbH, früher Vorsitzender der LPG »Gute Hoffnung«
Beziehungen: verheiratet mit Elena Gombrowski, geb. Niehaus.
Beste Freundin: Hilde Kessler. Jeder im Dorf schuldet ihm was.
Besondere Merkmale: Sieht aus wie sein eigener Hund
Hervorstechende Eigenschaften: Laut und manchmal grob, aber schlauer als man denkt.

Der größte Vorteil entsteht, wenn jeder bekommt, was er sich wünscht – dieser Satz war für Gombrowski keine Masche, sondern eine Philosophie. Wenn alle zufrieden seien, sagte Gombrowski, hätten am Ende auch alle den größten Nutzen. Das sei das Schöne in Unterleuten. Man schaffe es immer, sich gütlich zu einigen. Gombrowskis Leben war ein Kampf für die Ökologica, ein Kampf für Unterleuten und für die ganze Region, während sich alle anderen die Zeit damit vertrieben, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Wenn er das Wort »Politik« nur hörte, wurde ihm schlecht. »Politik« waren Leute, die eine Firma wie die seine kaputt sparten, um anschließend 20 Arbeitslose durchzufüttern. »Politik« war, wenn sich gelangweilte Westdeutsche mehr für Vögel als für Menschen interessierten.

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Elena Gombrowski, geb. Niehaus

Name: Elena Gombrowski, geb. Niehaus
geboren: 1949 in Mecklenburg
Beruf: Hausfrau
Beziehungen: verheiratet mit Rudolf Gombrowski, gemeinsame Tochter: Püppi (38). Hasst Hilde Kessler. Liebt ihren Mann trotz allem. Spielt manchmal Doppelkopf.
Besondere Merkmale: Pfeift Melodien, ohne es zu wollen. Wirft Steine auf das Dach des Nachbarhauses.
Hervorstechende Eigenschaften: still

Sie ertrug kein Geschrei und schon gar keine Gewalt. Jedes laute Wort erschütterte sie bis ins Mark, jede erhobene Faust fuhr ihr direkt in die Eingeweide. Im Lauf der Jahre hatte sich Elena in ein Auffangbecken für böse Worte und rüde Gesten verwandelt. Jede Form von Brutalität floss in ihre Richtung. Beschimpfungen, Drohungen, Schläge meinten immer sie. Als Püppi ins Trotzalter gekommen war und anfing, ihrem Papa Widerworte zu geben, hatte Elena gelernt, die gesamte zerstörerische Energie von Gombrowskis Wut auf sich selbst zu lenken. Fuhr eine Hand durch die Luft, stand Elena im Weg, um dem Streich eine Richtung zu geben. Es wurde zu ihrer Lebensaufgabe, Ursache und Ziel aller Gewalt zu sein, weil jeder Schlag, der sie traf, ihre Tochter verschonte. Bis heute war es ihr nicht gelungen, ihrem Schweigen den vorwurfsvollen Klang abzugewöhnen. Wenn sie sich aufrichtete, verlangte ihr Körper, sich gleich wieder wegzuducken. Sobald irgendwo ein Mann wütend wurde, hörte sie hinter sich ein kleines Mädchen weinen.

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Fidi Gombrowski

Name: Fidi Gombrowski
geboren: 2005 im Westen
Beruf: Haushund, und zwar ein Mastiff
Beziehungen: gehört Rudolf Gombrowski. Versteht sich nicht so gut mit Elena.
Besondere Merkmale: sieht ihrem Herrchen ähnlich
Hervorstechende Eigenschaften: groß, aber lieb und verspielt. Will eigentlich nur, dass alle glücklich sind.

Eigentlich wohnte im Körper der 80-Kilo-Hündin eine sanfte Seele. Gegenüber Besuchern verhielt sie sich freundlich, selbst Kinder durften sie ungestraft an den Ohren ziehen. Meine Fidi will es jedem recht machen, pflegte Gombrowski zu sagen, sie würde noch den Einbrechern helfen, den Fernseher hinauszutragen.

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Püppi Gombrowski

Name: Püppi Gombrowski
geboren: 1972 in Unterleuten
Beruf: Doktorin der Germanistik an der Uni Freiburg
Beziehungen: Tochter von Rudolf Gombrowski und Elena Gombrowski. Hasst Unterleuten.
Besondere Merkmale: Hält sich für etwas Besseres und ist es vielleicht auch.
Hervorstechende Eigenschaften: abwesend.

Püppi hatte nur darauf gewartet, dass die Mauer fiel, um »das verfluchte Dreckskaff Unterleuten« endlich verlassen zu können. Sie lebte in Freiburg, wo sie auf Gombrowskis Kosten an der »von euch am weitesten entfernten Universität der Republik« ein ebenso langwieriges wie hochnäsiges Studium durchgeführt hatte. Weil es mit ihrem Doktortitel in Klugscheißerei nur zu einer halben Assistentenstelle reichte, hatte Gombrowski ihr eine Wohnung gekauft. Trotz allem besaß sie die Dreistigkeit, es peinlich zu finden, dass das Geld, von dem sie lebte, mit Mähdreschern und Melkmaschinen verdient wurde.

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Hilde Kessler

Name: Hilde Kessler
geboren: 1954 in der Ost-Prignitz
Beruf: ehemalige Buchhalterin der LPG »Gute Hoffnung«
Beziehungen: Witwe von Erik Kessler. Hat eine Tochter, Betty (31). Lebt mit 20 Katzen zusammen.
Besondere Merkmale: Sehr klein. Geht nicht vor die Tür.
Hervorstechende Eigenschaften: Klug und kühl kalkulierend.

Hilde hingegen war klein, zierlich und sprungbereit wie eine Katze. Wer sie kannte, hatte Respekt vor ihr, trotz ihrer geringen Körpergröße. Sie besaß einen scharfen Verstand und eine gewisse Härte. Es gab nur eine Sache, die sie nicht ertrug, und das waren Aufenthalte unter freiem Himmel.

Glasklar erkannte Kron, dass sie unschuldig war. Nicht sie, sondern Gombrowski besaß ein schwarzes Herz. Hilde hatte in den langen Jahren der Abhängigkeit nur aufgehört, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie war in alle Pläne eingeweiht; das bedeutete aber nicht, dass es ihre Pläne waren. Und wie Kron sie so stehen sah, das alt gewordene Mädchen, wich die Wut mit einem Mal doch wieder dem schlechten Gewissen.

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Betty Kessler

Name: Betty Kessler
geboren: 1979 in Unterleuten
Beruf: Landwirtin. Assistentin der Geschäftsführung in der Ökologica GmbH
Beziehungen: Tochter von Hilde Kessler und wahrscheinlich Erik Kessler.
Besondere Merkmale: Sieht Rudolf Gombrowski ähnlich, obwohl sie angeblich nicht seine Tochter ist.
Hervorstechende Eigenschaften: Liebt ihre Arbeit in der Ökologica, ist bedingungslos loyal gegenüber Gombrowski.

Mit siebzehn Jahren war Betty als Auszubildende in die Ökologica gekommen, hatte drei Jahre später den Abschluss als Landwirtin erworben und war seitdem mit dem Betrieb verheiratet. Wenn Gombrowski der Kopf der Ökologica war und Hilde die Seele, dann war Betty Arme, Beine und Verdauungsapparat.

Es gehörte zu ihren Eigenarten, für jeden Handgriff etwa zu viel Kraft aufzuwenden. Wenn Betty eintrat, schlug die Tür mit einem Knall gegen die Wand, der Gombrowski auffahren ließ. Sie hatte weder die Zierlichkeit noch die geringe Körpergröße ihrer Mutter Hilde geerbt. Böse Zungen behaupteten, dass sie mit kompaktem Oberkörper, stämmigen Beinen und einem großflächigen Gesicht, das sich darauf vorbereitete, in einigen Jahren das Kinn auf dem Brustbein abzulegen, viel eher Gombrowski ähnlich sehe.

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Kron

Name: Kron
geboren: 1947 in Unterleuten
Beruf: ehemaliger Brigadeführer in der LPG »Gute Hoffnung«
Beziehungen: Krons Frau hat in den Westen »rübergemacht«, als Tochter Kathrin (heute 35) zwei Jahre alt war. Schwiegersohn Wolfi, Enkelin Krönchen (5). Schon immer ist Kron der Erzfeind von Gombrowski.
Besondere Merkmale: Steifes rechtes Bein, läuft mit Krücke.
Hervorstechende Eigenschaften: Liebt Krawall und macht Krawall.

Kron besaß ein gutes Gedächtnis, was eher Strafe als Segen war. Ein gutes Gedächtnis arbeitete als ständiger Protokollant der Ungerechtigkeit. Es machte das Staunen unmöglich und lehrte zu schweigen. Niemand mochte Menschen, die sich alles merkten. Kron, der Chronist. Einer, der sich weigerte zu vergessen, und dafür mit Einsamkeit bezahlte.

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Kathrin Kron-Hübschke

Name: Kathrin Kron-Hübscke
geboren: 1975 in Unterleuten
Beruf: Pathologin in Neu-Ruppin
Beziehungen: verheiratet mit Wolfi Hübschke, Tochter Krönchen. Schwierige Freundschaft mit Bürgermeister Arne Seidel.
Besondere Merkmale: ist nach Unterleuten zurückgekommen, obwohl sie im Westen hätte Karriere machen können.
Hervorstechende Eigenschaften: hat immer ein schlechtes Gewissen.

Für Kathrin war Unterleuten nicht nur ein beliebiger Punkt auf der Erdoberfläche, an dem sich zweihundert Individuen zufällig zum gemeinsamen Leben versammelt hatten. Unterleuten war ein Lebensraum, eine Herkunft, ja, sogar eine Weltanschauung. Lebensräume konnten vergiftet, eine Herkunft zerstört und Weltanschauungen in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Um keinen Preis wollte sie in den Verdacht geraten, die demonstrative Miesepetrigkeit ihres Vaters geerbt zu haben. Mit anderen Worten, Krons schlechte Laune hatte pädagogische Qualität. Kathrin fand sie so peinlich, dass sie sich unausweichlich zu einem sonnigen Gemüt verpflichtet fühlte. Außerdem hasste sie es, wenn ihre Stimme schrill wurde. Es bedeutete, dass Krons Peinlichkeit auf sie übergriff. Geh' nach Hause, befahl sie sich selbst. Sieh nach, ob Krönchen gut schläft. Trink ein Glas Wein, rede mit Wolfi über die Krise des deutschen Regietheaters.

Inzwischen ist Kathrin Kron-Hübschke Bürgermeisterin von Unterleuten. Und wenn sie sich als Lokalpolitikerin die momentanen Geschehnisse in der Welt anschaut, ist sie froh über die „heile Welt“ in Unterleuten: „Von kleinen Problemen und Streitereien mal abgesehen, geht es uns hier sehr gut. Und das soll auch bitte so bleiben!“ Neues aus der Lokalpolitik und gute Nachrichten aus ihrer Familie postet sie regelmäßig auf Facebook

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Wolfi Hübschke

Name: Wolfi Hübschke
geboren: 1973 im Westen
Beruf: Schriftsteller
Beziehungen: verheiratet mit Kathrin Kron-Hübschke. Tochter Krönchen. Will mit dem Dorf eigentlich nichts zu tun haben.
Besondere Merkmale: Schreibkrise
Hervorstechende Eigenschaften: fährt gern stundenlang mit dem Rasentraktor ums Haus.

Wolfi saß am Computer, einen Bleistift quer im Mund wie ein aufgezäumtes Pferd, und hämmerte in die Tasten. Seit Krönchens Verschwinden schien sich die Schreibkrise in Luft aufgelöst zu haben. Kathrin hatte ihn im Verdacht, die Ereignisse in ein Theaterstück zu verwandeln, und wusste jetzt schon, dass ihr das Ergebnis nicht gefallen würde.

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Krönchen Kron-Hübschke

Name: Krönchen Kron-Hübschke
geboren: 2005 in Unterleuten
Beruf: Kindergartenkind
Beziehungen: Tochter von Kathrin und Wolfi, Enkelin von Kron.
Besondere Merkmale: sehr hübsch
Hervorstechende Eigenschaften: kokett und intrigant.

Krönchen war fünf Jahre alt, eine blonde Miniaturschönheit, die bereits die Koketterie einer Diva besaß. Weder Eltern noch Großvater sahen sich in der Lage, sie von der Durchsetzung ihres Willens abzuhalten.

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Linda Franzen

Name: Linda Franzen
geboren: 1985 in Oldenburg
Beruf: Equidentrainerin
Beziehungen: lebt mit Frederik Wachs zusammen, liebt aber Bergamotte, einen Oldenburger Hengst. Verehrt die Schriften von Manfred Gortz.
Besondere Merkmale: blond, hübsch, knallhart.
Hervorstechende Eigenschaften: ehrgeizig und von dem Wunsch besessen, eine alte Villa in Unterleuten (Objekt 108) zu sanieren und ihr Pferd zu sich zu holen.

Sie übertrieb. In Bezug auf Meiler, aber auch ganz allgemein. Mit dem Haus, dem Dorf, ihren Zukunftsplänen. Seit sie Objekt 108 übernommen hatten, lief sie mit zu hoher Drehzahl. Ihre Augen und Lippen glänzten wie im Fieber. Sie schlief wenig und aß wie eine Maschine. Und sie teilte Menschen in zwei Kategorien ein: Freunde und Feinde. Freunde taten, was sie wollte; Feinde widersetzten sich. Ein Übergang von der ersten in die zweite Kategorie war jederzeit möglich. Nach Lindas Laune zu urteilen, hatte heute das Gute gesiegt, also sie selbst.

In ihrem Kopf gab es einen Schalter, mit dem sich Menschen ausknipsen ließen, und dieser Schalter legte sich von alleine um, wenn ihr etwas nicht gefiel. Das konnte schon passieren, wenn sie morgens das Badezimmer für sich haben wollte und Frederik hereinkam, um sich die Zähne zu putzen. Oder wenn sie aufstehen musste und er weiterschlafen durfte. Oder wenn er sie nicht ansah, während sie mit ihm redete. Mehr als einmal hatte Frederik ihr vorgeworfen, sie knüpfe Liebe an die Bedingung reibungslosen Funktionierens. Wenn sich ein Mensch nicht in ihrem Sinne verhalte, sortiere sie ihn aus wie ein defektes Gerät. Durch diese unausgesprochene Drohung bringe sie andere dazu, ihrem Willen zu folgen, denn niemand wolle verstoßen werden, nur weil er die Küche nicht aufgeräumt oder einem Grundstücksverkauf nicht zugestimmt habe.

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Frederik Wachs

Name: Frederik Wachs
geboren: 1983 in Oldenburg
Beruf: Entwickler bei der Spielefirma »Weirdo«, die seinem Bruder gehört
Beziehungen: lebt mit Linda Franzen zusammen, die allerdings liebt nicht ihn, sondern Bergamotte, einen Oldenburger Hengst
Besondere Merkmale: ungeschnittene Haare, Turnschuhe und jede Menge Ahnung von Computern.
Hervorstechende Eigenschaften: ist Linda verfallen.

Frederik hasste die Natur, solange sie sich nicht in sanften Farben auf dem Bildschirmhintergrund seines Computers befand. Er konnte sich in der Großstadt vom Land und bei Timo von Linda erholen – und umgekehrt. Sein persönlicher Luxus bestand nicht darin, in einer Welt alles zu erreichen. Sondern darin, zwischen verschiedenen Welten hin und her wechseln zu können.

Wenn sie über ihr Verhältnis zu Frederik nachdachte, begann Linda, neue Merksätze zu formulieren. Verliebtheit verfliegt, Freundschaft bleibt. Wer seine Träume selbst verwirklicht, braucht keinen Prinzen. Überhaupt gab es laut Manfred Gortz nur zwei Kategorien von Dingen auf der Welt – solche, die funktionierten, und den großen Rest. Frederik funktionierte.

Eine Zeitlang hatte Frederik massive Lust verspürt, Bergamotte, Lindas Hengst, einen mit Rattengift versetzten Eimer Hafer auf die Wiese zu stellen. Als der Drang schier unwiderstehlich wurde, suchte er Rat in der größten Selbsthilfegruppe der Welt, dem Internet. Er gab »Frau« und »pferdeverrückt« als Suchbegriffe ein und klickte sich durch eine hirnzersetzende Mischung aus Reitermagazinen, Kontaktanzeigen und Pornoangeboten, bis er schließlich auf www.reiterrevue.de ein Forum mit Gleichgesinnten fand und in dem Thread »Rossfrauen, pferdeverrückt« sein Problem diskutieren konnte ( https://www.reiterrevue.de/forum/kummerkasten/52326-rossfrauen-pferdeverr%C3%BCckt.html)

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Timo Wachs

Name: Timo Wachs
geboren: 1985 in Oldenburg
Beruf: Gründer und Eigentümer der Spielefirma »Weirdo« in Berlin
Beziehungen: jüngerer Bruder von Frederik und ehemaliger Klassenkamerad von Linda
Besondere Merkmale: interessiert sich eigentlich nur für Computerspiele
Hervorstechende Eigenschaften: sehr reich und sehr nett.

Die meisten Menschen besaßen komplizierte Persönlichkeiten; Timo war zu hundert Prozent nett. Außerdem verfügte er über haufenweise Geld, das ihm peinlich war. Er liebte Frederik, und Frederik liebte ihn. Ihr Leben lang hatten sie sich kaum gestritten. Trotzdem hätte es Frederiks Selbstwertgefühl endgültig in Schutt und Asche gelegt, seinen jüngeren Bruder um Hilfe zu bitten.

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Bergamotte

Name: Bergamotte
geboren: 2006 in Oldenburg
Beruf: Deckhengst
Beziehungen: gehört Linda Franzen, mag Stuten.
Besondere Merkmale: cremefarben mit hellen Haaren, sieht richtig gut aus.
Hervorstechende Eigenschaften: Frauen lieben ihn, Männer fürchten ihn.

Der Schatz hieß Bergamotte, war ein vierjähriger Hengst und für Linda gewissermaßen der Sinn des Lebens. Die Rechnung war klar: Frederik konnte nicht ohne Linda leben und Linda nicht ohne Bergamotte, also brauchten sie einen Ort, an dem die Rechnung aufging. Bergamotte konnte Wunder wirken: Wenn Linda ausnahmsweise schwächelte, wenn sie verzweifelt meinte, dass der Berg von Arbeit immer größer statt kleiner wurde, musste sie nur die Augen schließen und an Bergamotte denken, wie er in vorschriftsmäßiger Haltung stand, den Hals aufgewölbt, die Ohren gespitzt, das rechte Hinterbein einen halben Schritt vor dem linken. Das cremefarbene Fell glänzte wie Lack. Der Gedanke an Bergamotte heilte Muskelkater und Frustration.

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Arne Seidel

Name: Arne Seidel
geboren: 1955 in Brandenburg
Beruf: ehemaliger Tierarzt der LPG »Gute Hoffnung«, heute Bürgermeister der Gemeinde Seelenheil mit Ortsteil Unterleuten
Beziehungen: Witwer, kinderlos, verstorbene Frau Barbara Seidel, hat eine väterliche Schwäche für Kathrin Kron-Hübschke
Besondere Merkmale: langer Geduldsfaden.
Hervorstechende Eigenschaften: mit dem Dorf verheiratet.

Der Dienst am Dorf hatte ihm das Leben gerettet, also widmete er dem Dorf sein Leben.

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Barbara Seidel

Name: Barbara Seidel
geboren: 1958 in Unterleuten, gestorben 1990 in Unterleuten
Beruf: Kindergärtnerin bei der LPG »Gute Hoffnung«, im Nebenberuf IM Magdalena
Beziehungen: Frau von Arne Seidel, kinderlos. Ersatzmutter der kleinen Kathrin Kron.
Besondere Merkmale: tot.
Hervorstechende Eigenschaften: hat ihren Mann so sehr geliebt, dass sie über ihn an die Stasi berichtet hat.

Barbara kämpfte nicht. Es war, als hätte ihr die untergehende DDR ein Loch in den Kopf gebohrt, durch das sich ihre Seele geräuschlos davon stahl. Arnes Liebe, Arnes Fürsorge, Arnes verzweifelte Versuche, sie zurückzuholen, nahm sie einfach mit ins Nichts. »Lass mich doch gehen«, sagte Barbara. Dann ging sie.

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Konrad Meiler

Name: Konrad Meiler
geboren: 1948 in Ingolstadt.
Beruf: Unternehmensberater mit eigener Firma »Result International«
Beziehungen: verheiratet mit Mizzie Meiler, drei erwachsene Söhne, Friedrich, Johannes, Philipp, von denen der jüngste heroinabhängig ist. Findet Linda Franzen toll.
Besondere Merkmale: hat den halben Landkreis aufgekauft.
Hervorstechende Eigenschaften: Geschäftsmann mit Herz, der sich gut vorstellen kann, einen lukrativen Windpark in der Ost-Prignitz zu betreiben.

Konrad Meiler mochte Regeln, so lange er sich selbst aussuchen konnte, welche er befolgte. Unterleuten war nicht seine Heimat, er hatte nicht einmal Verwandte in der Region. Aber Unterleuten sah aus wie etwas, das man Heimat nennen konnte.

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Mizzie Meiler

Name: Mizzie Meiler
geboren: 1952 in Ingolstadt.
Beruf: Hausfrau und Mutter
Beziehungen: verheiratet mit Konrad Meiler, drei erwachsene Söhne. Widmet ihr Leben dem heroinabhängigen Philipp und ist deshalb nach München gezogen.
Besondere Merkmale: ist wirklich eine gute Mutter.

Hervorstechende Eigenschaften: zielstrebig. Kann sich gut vorstellen, mit einem lukrativen Windpark in der Ost-Prignitz die Drogensucht ihres Sohnes zu finanzieren.

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Bodo Schaller

Name: Bodo Schaller
geboren: 1963 in der Ost-Prignitz
Beruf: Automechaniker und Kleinkrimineller
Beziehungen: geschieden von Susanna Schaller, hat eine Tochter, Miriam Schaller (18). Betreibt seit Neuestem eine Autowerkstatt auf dem Grundstück neben Familie Fließ.
Besondere Merkmale: dick und dubios.
Hervorstechende Eigenschaften: hat bei einem Autounfall vor zwei Jahren große Teile seines Gedächtnisses verloren. Liebt seine Tochter über alles.

Schaller war eine Katastrophe. Er war Gerhards und Jules persönliches Armageddon. Er tat niemandem grundlos weh und war ein Typ, der mit sich reden ließ. Er verstand nicht, was die Leute gegen ihn hatten. In Gombrowskis Drecknest war er von Anfang an nicht willkommen gewesen. Hinter seinem Rücken verzogen die Menschen die Gesichter. Die einen kannten ihn von früher und glaubten, gewisse Sachen über ihn zu wissen. Die anderen kamen aus Berlin und hielten sich für etwas Besseres.

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Miriam Schaller

geboren: 1992 in Niederleusa
Beruf: Schülerin, macht Abitur
Beziehungen: Tochter von Bodo und Susanna Schaller. Lebt seit dem Unfall ihres Vaters mit der Mutter in Berlin. Kommt regelmäßig nach Unterleuten zu Besuch.
Besondere Merkmale: trägt künstliche Fingernägel und fährt einen gelben MG, den ihr Vater gebastelt hat.

Hervorstechende Eigenschaften: liebt ihren Vater und glaubt an das Gute in ihm. Schaller ging hinaus, als der Wagen in den Hof einbog. Miriam band das Tuch los, das ihre Haare gegen den Fahrtwind schützte. Sie trug eine Sonnenbrille, etwas Lippenstift und eine Bluse, in der sie so erwachsen aussah, dass Schaller eine Faust im Magen spürte. Das war nicht seine kleine Tochter, sondern eine fremde junge Frau, eine von der Sorte, die Schaller Angst machten, weil sie so schön waren, dass es keine Stelle an ihrem Körper gab, die man ansehen durfte.

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Lucy Finkbeiner

Name: Lucy Finkbeiner
geboren: 1980 im Westen
Beruf: Journalistin
Beziehungen: arbeitet freiberuflich für das Magazin »Vesta«
Besondere Merkmale: sieht aus wie eine Westdeutsche, die in Prenzlauer Berg lebt, und ist auch eine. Interessiert sich sehr für Unterleuten.
Hervorstechende Eigenschaften: neugierig, liebt Geschichten.

Wenn Lucy Finkbeiner in Unterleuten eins gelernt hat, dann dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat.

Seit dem Erscheinen von Juli Zehs Roman “Unterleuten”, an dem sie durch maßgebliche Recherchen mitgearbeitet hat, postet sie regelmäßig auf Facebook über ihre journalistische Arbeit und ihren Alltag.

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Herr Pilz

Name: Herr Pilz
geboren: ca. 1980 im Westen
Beruf: Angestellter der Windkraftfirma »Vento Direct«
Beziehungen: in Unterleuten keine
Besondere Merkmale: Brillenträger, Overhead-Projektor, Mikrofon, hat es aber faustdick hinter den Ohren.
Hervorstechende Eigenschaften: ehrgeizig bis zur Selbstaufgabe, hat deshalb vor nichts Angst.

Ohne Zweifel gehörte er zu jenen gehirngewaschenen Sklaven der Leistungsgesellschaft, die »Lösungen« sagten, wenn sie Möbel meinten, und zu einer internationalen Supermarktkette gingen, um dort Waren aus der Region zu kaufen. Ein Typ wie Pilz war noch nicht mal Verkäufer, er war selbst ein Produkt.

Als Produkt präsentiert sich Sebastian Pilz auf seinem Profil bei XING, wo er unter anderem mit Kenntnissen im Bereich der erneuerbaren Energien, Windkraftanlagen und Präsentationstechniken, mit Engagement, Ehrgeiz und schneller Auffassungsgabe sowie Erfahrung im Projektmanagement für sich wirbt.

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Die LPG-Veteranen

Namen: Wolfgang, Heinz, Norbert, Jakob, Ulrich und Björn
geboren: 1940 oder früher in Unterleuten und Umgebung
Beruf: ehemalige Angestellte der LPG »Gute Hoffnung«
Beziehungen: in Unterleuten mit fast jedem verwandt
Besondere Merkmale: alt und ziemlich arm, ohne es zu merken. Haben bei der LPG-Umwandlung ihre Anteile und ihre Jobs verloren.
Hervorstechende Eigenschaften: treue Jünger von Kron.

Das Alter hatte jedem eine Karikatur seiner selbst ins Gesicht geschnitzt. Björns Grinsen, das früher einen ganzen Raum erhellen konnte, ließ sich nicht mehr abstellen. Norberts Augenbrauen waren oberhalb der Nase zu einem grimmigen Balken verwachsen. Wolfgangs Mundwinkel hatte der Spott nach unten gezogen. Die Augen von Heinz standen so weit hervor, als wollten sie den Schädel verlassen. Seit Jakob das Trinken offiziell zum Hobby erklärt hatte, war seine Burgundernase auf doppelte Größe angeschwollen. Der dicke Ulrich musste von innen mit Haaren ausgestopft sein, jedenfalls quollen sie aus Ohren, Nasenlöchern und Hemdkragen. Wenn Kron irgendwo die Krücke schwang, waren seine Jünger nicht weit.

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Silke und Sabine

Namen: Silke und Sabine
geboren: ca. 1960 in der Ost-Prignitz
Beruf: Betreiberinnen des Gasthofs »Märkischer Landmann«
Beziehungen: Silke lebt und arbeitet mit Sabine und Sabine mit Silke.
Besondere Merkmale: Kellnerinnenschürze und kräftige Oberarme
Hervorstechende Eigenschaften: selbstbewusst.

Silke und Sabine trugen Teller mit Schnitzel und Pommes durch die Reihen, lächelnd beim Gedanken daran, dass sie gerade den Umsatz ihres Lebens machten. Als sie über Ostern in Urlaub fuhren, wussten sie noch nicht, ob sie den Landmann danach wieder öffnen würden.

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Oma Rüdiger und Opa Margot

Namen: Oma Rüdiger und Opa Margot
geboren: 1940 oder früher in Unterleuten
Beruf: Rentner und Betreiber der Gerüchteküche in Unterleuten
Beziehungen: kennen jeden und wissen alles
Besondere Merkmale: immer Hand in Hand. Trinken gerne einen Kräuterlikör namens Bromfelder.
Hervorstechende Eigenschaften: gesprächsbereit.

Oma Rüdiger ist mit dem halben Dorf verwandt und lebte mit Opa Margot in wilder Ehe. Saßen meist händchenhaltend in der ersten Reihe.

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Karl, der Indianer

Name: Karl
geboren: ca. 1960 in Unterleuten
Beruf: erfolgreicher Geschäftsmann, aber das weiß niemand
Beziehungen: anerkannter Sonderling in Unterleuten
Besondere Merkmale: verkleidet sich als Indianer und lebt meistens in einem Tippi
Hervorstechende Eigenschaften: freundlich. Geht gern auf die Jagd.

Karl, der Indianer, trug zu feierlichen Anlässen dreifarbige Streifen auf den Wangen und ein Band um den Kopf, in dem die Feder eines Rotmilans steckte. Im Garten schien er regelmäßig damit beschäftigt, sein Tipi in Schuss zu halten. Die Außenhaut des Tipis bestand aus Segeltuch und war innen isoliert, den Boden hatte Karl mit Fellen ausgelegt. In der Mitte eine Feuerstelle. Selbst im Winter verbrachte er die Nächte im Freien. Einmal hatte er geräucherten Rehrücken herübergebracht, der phantastisch schmeckte und, wie Karl mit einem Augenzwinkern betonte, unmittelbar aus der Region stammte.

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Herfried Münkler

Name: Herfried Münkler
geboren: 1951 in Friedberg (Hessen)
Beruf: Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin
Beziehungen: viele, aber eigentlich nicht in Unterleuten
Besondere Merkmale: sitzt meistens auf einem Podium
Hervorstechende Eigenschaften: klug und beliebt, vor allem bei sich selbst.

Eines Abends saß Jule in einer Kneipe neben Gerhard und erklärte, dass Münkler nicht nur hoffnungslos überschätzt, sondern ein veritabler Vollidiot sei. Spätestens in diesem Augenblick wusste Gerhard, dass Jule die Frau seines Lebens war.

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Manfred Gortz

Name: Manfred Gortz
geboren: 1951 in Ingolstadt
Beruf: ehemaliger Unternehmensberater, heute Triathlet und Buchautor des Ratgebers „Dein Erfolg“, mehr auf seiner Website www.manfred-gortz.de
Beziehungen: viele Fans, Freunde (https://www.facebook.com/manfred.gortz?fref=ts) und Follower (https://twitter.com/manfredgortz)
Besondere Merkmale: fit
Hervorstechende Eigenschaften: weiß, wie man Erfolg hat, und kann es erklären. Wird von Linda Franzen verehrt.

Einer von Linda Franzens Leitsätzen, die sie einem schrecklichen Buch namens »Dein Erfolg« entnahm, lautete sinngemäß: »Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt.« Linda folgte blind den Anweisungen von Manfred Gortz, den ihr Freund Frederik Wachs nie gelesen hatte, weil ihm schon die Kapitelüberschriften Brechreiz verursachten. »Moral ist für die Schwachen«, »Die Kosten-Nutzen-Bilanz der Gefühle«.

Nähere Informationen über »Dein Erfolg« finden sich auf der Website des Autors (www.manfred-gortz.de). Das Buch ist im Portobello Verlag bei Goldmann als Taschenbuch (https://www.penguinrandomhouse.de/Taschenbuch/Dein-Erfolg/Manfred-Gortz/Goldmann-TB/e496783.rhd) und E-Book (https://www.penguinrandomhouse.de/ebook/Dein-Erfolg/Manfred-Gortz/Goldmann-TB/e486647.rhd) sowie im Hörverlag als Hörfassung (https://www.penguinrandomhouse.de/Hoerbuch-Download/Dein-Erfolg/Manfred-Gortz/der-Hoerverlag/e504297.rhd) erschienen. Seit Erscheinen wird »Dein Erfolg« auf Amazon (https://www.amazon.de/Dein-Erfolg-Manfred-Gortz/dp/3442839424) von Leserinnen und Lesern rege diskutiert.

Trotzdem stellten im April 2016 mehrere große Zeitungen die Existenz von Manfred Gortz in Frage, darunter die Süddeutsche Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/kultur/juli-zehs-unterleuten-hat-juli-zeh-fuer-ihren-aktuellen-roman-abgeschrieben-1.2949260) und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/juli-zeh-ueber-ihren-roman-unterleuten-14183663.html). Manfred Gortz wehrte sich mit einem persönlichen Videostatement (https://www.youtube.com/watch?v=6Wkecy6EHsk).

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Die Ökologica GmbH

Name: Ökologica GmbH
geboren: 1991 in Unterleuten
Beruf: ehemalige LPG, heute ein Agrarbetrieb mit Bio-Siegel
Beziehungen: das soziale und kulturelle Herz von Unterleuten
Besondere Merkmale: 900 Hektar Land, 250 Kühe, EU-subventioniert
Hervorstechende Eigenschaften: bekommt nie das passende Wetter und ist ständig vom Untergang bedroht

Bald würde sich die Ökologica die Pacht ihrer Felder nicht mehr leisten können. Dazu kamen noch die Spinner aus dem Westen. Die einen spielten Superkapitalisten, ersteigerten Hunderte Hektar für Phantasiepreise, weil sie gerade Lust dazu verspürten, und hoben dadurch die Bodenrichtwerte weiter an. Die anderen gehörten zur Kategorie »Weltenretter«, zogen nach Unterleuten, um im Auftrag des Naturschutzes ein paar dämliche Vögel gegen die örtliche Landwirtschaft zu verteidigen, und verwandelten jedes neue Silo und jede geplante Flächenumnutzung in eine Staatsaffäre mit Genehmigungspflichten, reihenweise Aktenordnern und nervtötenden Behördenverfahren. Feststand, dass die Ökologica in der momentanen Lage höchstens noch zwei Jahre weitermachen konnte, bevor sie in Zahlungsschwierigkeiten geriet.

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Der Märkische Landmann

Name: Märkischer Landmann
geboren: 1923 in Unterleuten
Beruf: Landgasthof
Beziehungen: einer der Orte, an dem sich Unterleuten mit sich selbst unterhält. Gehört zur Zeit Silke und Sabine.
Besondere Merkmale: gut geführt und sauber. Riecht nach Pommes und Bratenfett.
Hervorstechende Eigenschaften: Das Wetter ist ihm egal, aber ständig vom Untergang bedroht ist er auch.

Die saubere Luft war der Atem des 21. Jahrhunderts. Dass ausgerechnet im Märkischen Landmann eines Tages das Rauchverbot gelten würde, hätte sich vor ein paar Jahren niemand träumen lassen. In Unterleuten galten Rauchen und Trinken nicht als Laster, sondern als Hobby. Eine Frage des Geldes, nicht der Gesundheit.
Zur aktuellen Speisekarte hier klicken …

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Objekt 108

Name: Villa Kunterbunt aka Objekt 108
geboren: 1891 in Unterleuten
Beruf: Gutshaus
Beziehungen: hat schon vielen Menschen gehört, von denen eine ungewöhnliche hohe Anzahl jung verstorben ist. Steht derzeit im Besitz von Linda Franzen und Frederik Wachs.
Besondere Merkmale: ziemlich heruntergekommen
Hervorstechende Eigenschaften: ein verwinkeltes und verwunschenes Traumhaus, in das sich jeder verliebt, der nicht weiß, was Altbausanierung bedeutet.

Wenn Linda Franzen abends allein in der Berliner Wohnung saß, weil sie in der Stadt keine Freunde hatte und Frederik Wachs noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war, surfte sie auf Immobilienseiten, wo sie nach alten Häusern und verlassenen Höfen Ausschau hielt. An einem Wochenende überraschte Frederik sie mit Ausflugsplänen, hatte den Picknickkorb gepackt und verriet nicht, wo sie hinfahren würden. Das Haus erkannte Linda sofort. Das war Nummer 108, eins ihrer Lieblingsobjekte auf ImmobilienScout24. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Restaurierung von Objekt 108 bestand darin, die untergegangene DDR von Wänden und Böden zu kratzen. Den Vorbesitzern hatte die heruntergekommene Villa kein Glück gebracht. Einer nach dem anderen war auf Kathrin Kron-Hübschkes Tisch in der Pathologie gelandet. Hirntumor, Schlaganfall, Selbstmord. Fehlte nur noch ein Autounfall, um das Quartett der beliebtesten Todesursachen zu komplettieren.

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Die Schiefe Kappe

Name: Schiefe Kappe
geboren: zu Beginn aller Zeit in Unterleuten
Beruf: Anhöhe
Beziehungen: eigentlich keine, hat aber viele neue Freunde, seit sie zum Eignungsgebiet für einen Windpark erklärt wurde
Besondere Merkmale: karg.

Hervorstechende Eigenschaften: gut einsehbar von den westlichen Fenstern der Familie Fließ. »Besser geeignet ist das Gebiet westlich der Unterleutner Landstraße. Hier befindet sich ein Eignungsgebiet von etwa achtzehn Hektar. Der Flurabschnitt heißt Schiefe Kappe.« - »Da gucken wir direkt drauf«, rief eine aufgeregte weibliche Stimme; gleich darauf begann ein Kind zu schreien.
»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Frau Liebkind. »Schiefe Kappe auf der Plausitzer Höhe, südlich der Unterleutner Landstraße. Das sind die Flurstücke 27/3 und 27/4 sowie die 28/1. Insgesamt etwas zwanzig Hektar. Was wollen Sie wissen?« - »Ich möchte wissen, ob ich auf der Schiefen Kappe Land besitze.«- »Das tun Sie, Herr Meiler, und zwar das Flurstück 28/1. Acht Hektar.« - »Das reicht nicht. Ich meine, es reicht nicht für das Vorhaben.«

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Die Polizei

Name: Polizei Brandenburg
geboren: 1991 in Brandenburg
Beruf: Exekutivorgan
Beziehungen: in Unterleuten quasi keine
Besondere Merkmale: ganz selten sieht man sie im Auto vorbeifahren
Hervorstechende Eigenschaften: wird so gut wie nie angerufen.

»Erinnerst du dich an unseren kleinen Katalog mit Unterleutner Verhaltensregeln?«, fragte Gerhard. »Eins: Wenn du auf eine Party mit fünfzig Gästen kommst, gib jedem einzelnen die Hand. Zwei: Wenn dich jemand beleidigt, ist das nett gemeint. Drei: Probleme löst man nicht mit der Polizei.«

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Der Dorffunk

Name: Dorffunk
geboren: vor langer Zeit in Unterleuten
Beruf: Informationsdienst
Beziehungen: steht mit sämtlichen Dorfbewohnern in Kontakt
Besondere Merkmale: scheinbar allwissend
Hervorstechende Eigenschaften: findet ständig statt und besitzt hohe Glaubwürdigkeit, obwohl er in Wahrheit keine Ahnung hat.

Es war immer wieder verblüffend, wie schlecht der Dorffunk funktionierte. Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war. Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen.

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Der Wald

Name: Wald
geboren: vor langer Zeit in Unterleuten
Beruf: Forstwirtschaft
Beziehungen: versteht sich gut mit vielen einheimischen Tierarten und macht ansonsten sein eigenes Ding
Besondere Merkmale: groß und grün
Hervorstechende Eigenschaften: interessiert sich nicht für Menschen, nicht einmal dann, wenn sie in ihm Verbrechen begehen.

Niemand ging zum Spaß in den Wald. Für die Unterleutner war der Wald kein Naherholungsgebiet, sondern ein Arbeitsplatz, und zwar ein gefährlicher. Kathrin stellte eine Ausnahme dar. Wann immer sie konnte, unternahm sie einen Spaziergang in den Wald. Aus ihrer Sicht war der Wald etwas Magisches: ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte. Er brachte alle Fragen zum Schweigen.

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